Die Corona-Grätsche

Wie in St. Exupérys Erzählung vom kleinen Prinzen ist der Mensch in der Begegnung mit Covid-19 einer Erfahrung ausgesetzt, die ihn verstört und zu einer Entscheidung zwingt: Entweder erkennt er an, dass gerade das ihm Wichtigste auf Unverfügbarkeiten gebaut ist, oder er lehnt eine solche Realität sich selbst verleugnend ab.

Wirklichkeit als Totale und perspektivisches Aufgehobensein
Werner Mikus

Atmosphärisches
Der kleine Prinz, wie er auf seinem Planeten steht mit einer Rose zu seinen Füßen, die ihm einiges zu bedeuten scheint, setzt eine Stimmung ins Bild, die ich atmosphärisch mit der Lage in Verbindung bringe, in der wir uns angesichts der Corona-Pandemie befinden.

Für den kleinen Prinzen aus der gleichnamigen Erzählung von St. Exupéry ist eine Rose dazu da, ein bewunderns- und begehrenswertes Gegenüber zu sein, das uns ebenso freudig erregen wie auch traurig stimmen kann.

Eines Tages erfährt er nun aber, dass eine Rose jenseits seiner kleinen Planetenwelt ein Objekt des Marktes ist, das in großer Zahl hierfür gezüchtet wird um gegen ein entsprechendes Geld abgegeben zu werden. Das erfährt er nach seinem Absturz auf die Erde in Folge seiner Suche nach dem, was ihm in seiner kleinen, von einer schwierigen Beziehung zu einer Rose geprägten Welt, wohl gefehlt haben musste:

Das Malheur: Begegnung mit der Rosenwelt
Er sieht also eine riesige Rosenzucht und ist ernüchtert. Sein Herz hat offenbar einem „Ding“ angehangen, das in keinerlei Resonanz mit dem zu bringen ist, was dieses soeben noch für ihn bedeutet hatte. Mit dieser Ernüchterung und erlebten Entwertung findet aber fast zeitgleich eine unerwartete Neubewertung in ihm statt. Die Weisheit seines neuen Freundes, dem Fuchs, „man muss sich miteinander vertraut machen, wenn man einen Freund und Liebe finden will“, nutzt die schockierende Erfahrung des kleinen Prinzen als Erkenntnis sichernden Kontrast: Das Einzigartige gibt es nicht in einem vorgegebenen Sinne! Vielmehr entwickeln wir es immer erst mit unserer Hin- und Zuwendung und im Sich-vertraut-machen miteinander. Seine fürsorgliche Art mit seiner Rose umzugehen einschließlich der im Ziel sich verkehrenden Überansprüche und Eitelkeiten, bekommt nun eine neue Bedeutung für ihn. Er erkennt darin die Herstellung eines perspektivischen Aufgehobenseins, ein Aufgehobensein in das alles Mögliche einbezogen werden und miteinander vertraut gemacht werden kann.

Eine Wirklichkeit dagegen, die multiperspektivisch ihre Zusammenhänge in alle Richtungen entfalten will, beschert uns immer wieder mal eine solche ernüchternde Erfahrung, wie sie der kleine Prinz angesichts der Tausenden von Rosen machen konnte. Rosen sind eben auch ein Marktprodukt.

Das Malheur: Begegnung mit der Virenwelt
Eine Analogie hierzu ist die Erfahrung der wie aus dem Nichts auftauchenden Virusbedrohung für uns Menschen: Unsere perspektivisch ausgerichtete Welt wird von einem Gegenprinzip getroffen. Es ist das Prinzip einer überordnungsfreien multiperspektivischen Wirklichkeit. Plötzlich stehen wir einer Bedrohung gegenüber, die wir nicht in erster Linie selbst „verbrochen“ haben (mangelnde Achtsamkeit etwa). Viren bilden eine eigene Wirklichkeit, für die der Mensch von eher peripherer Bedeutung ist. So sind sie z.B. besonders für das Plankton der Meere von Bedeutung und in weit umfassenderen Zusammenhängen engagiert als in der Besiedelung der menschlichen Spezies.

Verwechslungsgefahr
Die Begegnung mit dem Virus ist nicht das Ergebnis einer Verkehrung unseres besonderen Tuns, also unseres Umgangs mit der Natur etwa (auch wenn es hier mit Sicherheit die schlimmsten Verfehlungen anzumerken gibt), vielmehr zeigt sich in der Begegnung mit dem Virus eine Verkehrung des Prinzips perspektivischer Ausgerichtetheit schlechthin. Wir bekommen zu spüren, dass da noch ein anderes Organisationsprinzip existiert und Macht bekommen kann. Allerdings macht doch grade das Prinzip des perspektivischen Aufgehobenseins unser menschliches Wesen aus!

Ein Ja zu unserer Wirklichkeit
Wie dem kleinen Prinzen sollte uns nach dem Schock folgendes klarwerden: Das perspektivische Aufgehobensein der Dinge müssen wir weiterhin lieben und uns darauf auch weiterhin liebevoll fokussieren. Das geht aber nur, wenn wir den Einspruch eines Teils unserer Wirklichkeit akzeptieren, der uns eine prinzipielle Unverfügbarkeit zumutet und einen auf das Ganze vertrauenden Umgang von uns verlangt. Die Geschichten, in denen wir existieren, organisieren sich eben (ob wir es wollen oder nicht) nach dem Prinzip einer überordnungsfreien multiperspektivischen Wirklichkeit und grätschen so hin und wieder in unser perspektivisches Aufgehobensein hinein – ohne dass wir prinzipiell daran etwas ändern können. Eine Psychologie unserer Zeit wird dazu Ja sagen müssen und mit ihrem Bildverstehen etwas zu einer lebendigeren und intensiveren Wirklichkeitserfahrung beitragen.

 

Bildquellen

  • corona-2021: Werner Mikus