Erzieher als Rattenfänger?

Der Sage nach wurde in der Stadt Hameln ein Flötenspieler engagiert, um eine Rattenplage zu beseitigen. Die Hamelner wollten in ihm nur den Entsorger sehen. In ganz ähnliche Verhältnisse kann auch der Erzieher im Aufgabenfeld einer Kita geraten. Die Einladung und der Wunsch, an den Entgrenzungen der kindlichen Unbeschwertheit unmittelbar teilhaben zu können, bringen ihn in eine Situation in der das Begrenzen als Thema übermächtig wird. Kreative Ideen, wie das Aufräumen mit einem Singen zu verbinden, geraten schnell in den Verdacht, dem erzieherischen Auftrag nicht gerecht zu werden. Allzuvieles, was andrängt, muss ausgeklammert werden. An anderer Stelle meldet es sich dann aber ungefragt wieder zurück. So steigt das Potenzial des Unerwünschten. Der Erzieher sieht sich so zunehmend als jemand, der nur dazu da ist, das Störende zu beseitigen. Wie der Rattenfänger von Hameln, weiß er sich nicht in seinen Möglichkeiten gesehen und gewertschätzt. Der folgende Beitrag macht diese Zusammenhänge am Beispiel einer psychologisch begleiteten Führung einer Kitagruppe sichtbar.

Erfahrungen zur Arbeit und zur Haltung in einer Kitagruppe
Claudia Fiedler (Redaktion: Markus Buschkotte, Werner Mikus)

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Mit dem Stellenwechsel änderte sich an den vorhergehenden Aufgaben (Elterngespräche, Dokumentation, Planung, Organisation) nichts. Manches war sogar rückläufig, da Bereiche verwehrt blieben, in die ich vorher Einblick hatte. Die Verantwortung hingegen war eine ganz andere. Ich trug nun die Verantwortung für die Gruppe, sowohl Kinder als auch Kollegen. Der Wind wehte direkter und die Kritik traf mich unmittelbarer. Wenn die Gruppe als Einheit „Mäuse-Gruppe“ sichtbar war, so stand ich als erste Ansprechpartnerin ganz vorne und musste mich erklären.

Es stellte sich mir die Frage, wie man eine Kindergartengruppe „gut“ führt. Wie können gesetzliche Auflagen erfüllt werden, die manchmal dem eigenen Ideal nicht entsprechen? Z. B. ist diese Einrichtung unfallschutztechnisch auf einem modernen Stand. Wie kann ein Kind lernen, ohne sich an manchen Dingen reiben zu dürfen, sich beispielsweise zu verletzten oder zu stoßen, weil alles und jedes Ding abgesichert ist? Es stehen die Auflagen hinderlich der Pädagogik und des eigenen Anspruchs gegenüber. Z. B. ersetzen LED-Teelichter echte Kerzen und verhindern das Entstehen von Erfahrungen (Sinnesentwicklung durch Hitze oder Geruch). Gesetzlich ist mir vieles nicht erlaubt. Ich bediente die Strukturen, ohne es sinnvoll, im Sinne von „eigenem Sinn“ erkennend, zu erfüllen. Ich musste mitspielen um der Vorgabe zu entsprechen.

Weitere Fragen stellten sich: Welche Energien bringen die neuen Kollegen mit sich? Welche Ansprüche haben die Eltern? Welche sozialen Diskrepanzen habe ich zu bewältigen, z. B. hinsichtlich der unterschiedlichen Elternhäuser, und wie kann ich jedem gerecht werden? Will ich jedem gerecht werden? Wie kann ich ein „gutes“ Umfeld für meine Schützlinge bereiten? Und wieder: was heißt denn „gut“?

Das Bild der Wüstenei, am Ende des Grimm’schen Märchens „Rapunzel“, zeigt einen Ort ohne Wege und Landkarte. Ein öder Ort. Man muss die Möglichkeiten sehen können, die er bietet, denn Wege können neu erkundet, Lieder neu gesungen und Boden neu bestellt werden.

Ein Haus mit Kindern, Spielmaterial und Möbeln, das hatte ich. Und ein Konzept im Kopf, wie ich es mir vorstellen könnte. Die perfekte „Wüstenei“ also, um etwas Neues zu erschaffen. Nach außen wirkte es auch so, als ob alles in Ordnung wäre. Allerdings empfand ich eine große Orientierungslosigkeit. Abgesehen von den formalen, äußeren Dingen, fühlte ich eine große Unsicherheit.

Funktionierend in meiner besonderen Art, die Dinge anzupacken, kam ich mir irgendwann vor, wie der Rattenfänger von Hameln. Dieser geht mit seiner Flötenmusik voran und zieht dadurch die Kinder in seinen Bann, und zwar ohne den Blick auf die Kinder zu richten. Ich kam mir vor, als würde ich die Kinder ebenfalls um etwas betrügen, wenn ich sie z.B. singend dazu brachte, sich ans Aufräumen zu machen ohne auf eine Einsicht in die Notwendigkeit des Aufräumens und auf eine Bereitschaft zu einem dementsprechenden Opfer hinzuwirken. Ich hatte irgendwie ein schlechtes Gewissen dabei.

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