Ist das Seelische ein zusätzliches Organ?

Wir können im Seelischen ein Geschehen sehen, das übergreifend und nicht nur im unmittelbar menschlichen Bereich sein Erscheinen hat. Die Psychologie von heute geht allerdings kaum darauf ein. Vielmehr wendet sie sich über die eine oder andere Modellvorstellung ihren Phänomenen des Erlebens und Verhaltens zu. Das geschieht z.B. über das Instanzenmodell (in der klassischen Psychoanalyse) oder allgemeiner dort auch über das Bild von einem "Seelischen Apparat". Solche und ähnliche Konstrukte ersparen es der Psychologie, letzte Erklärungen anbieten zu müssen und bestätigen sie in der Haltung einer Wissenschaft. Im Ganzen bleibt die Psychologie aber von der Vorstellung bestimmt, dass es sich mit dem Seelischen wie mit einem zusätzlichen und besonderen menschlichen "Organ" verhalte. Erst wenn dieser Kniff gesehen wird, kann die Psychologie sich in einer Krise für den schwierigeren Weg entscheiden und sich auf das Bild eines Geschehenskomplexes einlassen, in dessen Mittelpunkt das Gleichnishafte steht. Für einen solchen Wandel wirbt der vorliegende Beitrag und zeigt wie man dabei auch das Ereignis des Erlebens und die Bedeutung des Atmosphärischen besser verstehen kann.

Die Natur des Seelischen neu verstanden

Werner Mikus

Seite 2

Erlebbare Zusammenhänge und manifestes Erleben

Von der Gleichnishaftigkeit kommen wir zu dem Ereignis des Erlebens auf der einen und den Prozessen der erlebbaren Zusammenhänge auf der anderen Seite. Was unterscheidet ein Erleben von einem erlebbaren Zusammenhang? Worin besteht das Wesen eines Erlebens? Diese Fragen hängen eng mit der Gleichnishaftigkeit zusammen. Erleben ist das sich Finden einer Sache in einer anderen. Die besondere Angespanntheit des Wartens auf die Erfüllung eines versprochenen Ereignisses z.B., kann sich über die atmosphärisch dabei mitbewegten Geschichten plötzlich im Gleichnis einer unmittelbar bevorstehenden ersten Verabredung wiederfinden. Das andere wird aus seiner potenziellen Wirklichkeit heraus zu einem Bild für das Gegenüber, mit dem es nicht vorher schon in dieser Beziehung gestanden hat. Das „in den Dienst treten“ ist der Moment des eintretenden Erlebens.

Zusammengefasst: Eine Befindlichkeit, die wir noch im Status eines erlebbaren Zusammenhangs also im Potenziellen verorten müssen (die schwer zu fassende Angespanntheit des Wartens im Beispielsfall), findet sich in dem Bild einer bestimmten anderen Sache wieder und zwar als eine manifeste eigene Realität. Ein solches Geschehen kann als das Ereignis eines Erlebens verstanden werden. Das Erleben ist also die Manifestation einer Befindlichkeit, die sich im Bild eines Ereignisses wiederfindet. Umgekehrt bedeutet das: Was sich nicht im Bild eines Anderen findet oder wiederfindet wird auch nicht erlebt.
Weil das Erleben feststellt, wie sich Eins im Anderen findet, könnten wir auch von einem einfachen Wahrnehmen sprechen. Genauer betrachtet ist hiermit aber der Umstand gemeint, dass etwas „für wahr“ genommen wird und das spielt auf ein Wirklichwerden an. Dabei zeigt sich die Wirklichkeit als etwas Doppeltes. Denn ein Element der potenziellen Wirklichkeit (erlebbarer Zusammenhang) wechselt in ein Element der manifesten Wirklichkeit hinüber.

Und an dieser Stelle lohnt es sich auf die Bedeutung des Begriffs vom Unbewussten einzugehen, der ja eine enorme Veränderung im Verstehen der seelischen Zusammenhänge gebracht hat. Das Erleben kann Qualitäten haben, die uns nicht bewusst oder sogar bewusstseinsunfähig sind. Verdrängung oder Spaltung werden in der Tiefenpsychologie zum Thema gemacht. Wenn wir das Seelische auf die erlebbaren Zusammenhänge hin beschreiben, werden wir erst einmal auf die geschichtenhafte und in diesem Sinne auch gleichnishafte Natur des Seelischen aufmerksam und die Unterscheidung in ein Bewusst oder Unbewusst bekommt eine diesbezüglich eigene Bedeutung und Funktion:

Erlebbare Zusammenhänge müssen nämlich nicht erlebt sein, um zu wirken. Sie verstehen es, auf eigene Weise wirksam mit im Spiel zu sein. So können sie z.B. als potenzielle Fortsetzungsangebote und Möglichkeiten von Geschichten mitspielen und auf diesem Weg Einfluss auf das manifeste Geschehen ausüben. Eine sich als erlebbar mitbewegende Geschichte kann als ein Angebot bereitstehen, ein bestimmtes Geschehen mit einem Schlag drehen und in eine andere Richtung bringen zu können. Allein das Bestehen dieses Angebots hat schon seine Wirkung.

Bildquellen

  • heart-7004820_1280: Cdd20