Macht und Ohnmacht in einer totalen Institution

Sich außerhalb der Regeln stellen verleiht Macht. Und je mehr das von der anderen Seite übersehen oder auch nur heruntergespielt wird, umso größer und gefährlicher wird sie. Eine Morddrohung, die von einem Gefangenen gegen einen Bediensteten ausgesprochen wird, führt zu einer unerträglichen Zuspitzung und einer berührenden Wende.

Eine unheimliche Konfrontation
Gerhard Heinz

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Eine dramatische Erfahrung und Bewährungsprobe

Ich bin selber einmal in das Schussfeld eines solchen Gefangenen geraten. Und so stand mir auf einmal eine echte und wie ich heute weiß, für meine berufliche Entwicklung auch entscheidende Bewährungsprobe bevor, von der ich im Folgenden berichten möchte. Es geht dabei um die Begegnung mit einem Häftling, dessen Lebensstil sich stark kriminell verfestigt hatte. Ich wollte ihn als Anstaltspsychologe ‘unter Kontrolle’ bringen, um das Kriminelle in ihm zu bannen. Er jedoch drehte diesen Spieß einfach herum, indem er mich mit seinen Mitteln zu beherrschen trachtete. Es entwickelte sich für mich eine Situation, die ich sowohl beruflich als auch in sonstiger Hinsicht für mich als existentiell bedrohlich erlebte. Sie ließ mir nur die Möglichkeit, entweder den Ausweg einer entwürdigenden Flucht zu wählen oder mich unter einer nicht zu verhindernden Lebensgefahr einer bestimmten Herausforderung am Ende zu stellen. Einen dritten Weg gab es nicht. Diesem Inhaftierten verdanke ich eine tiefe Erfahrung im Umgang mit den ‘Kriminellen’, von der ich im Folgenden wegen der besonderen Spannung, die in ihr enthalten ist, in einer erzählerischen Form berichten möchte:

Drohung und Konfrontation

An einem späten Nachmittag saß ich in meinem Dienstzimmer jener Justizvollzugsanstalt, in der ich als Anstaltspsychologe tätig bin. Neben anderen Schriftstücken lag auf meinem Schreibtisch noch der ungeöffnete Brief, den mir ein Gefangener am Vormittag mit den knap­pen Worten „bitte bald lesen“ vorbeigebracht hatte. So flink wie mir der Überbringer diesen Brief übergab, so flink hatte er sich auch wieder von mir abgewandt und war seines Weges gegangen. Insofern hatte ich nichts Näheres dazu fragen können. Ich betrachtete diesen Brief nun genauer und mir fiel auf, dass er von innen mit zwei Pappscheiben ausgefüllt war. Ich hielt ihn gegen das Licht. Nicht der geringste Schriftzug war zu erkennen. Ein seltsamer Brief. Ich riss den Umschlag auf und las. Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. Der Brief enthielt eine Warnung: Ein wohlgesonnener Gefangener schrieb mir, ich solle auf der Hut sein vor einem Mordanschlag gegen mich. Nähere Angaben wurden nicht gemacht.

Ich hielt den Brief in den Händen – innerlich erstarrt. Das hatte es in meinem Leben noch nicht gegeben: eine Morddrohung! Und ich wusste plötzlich genau, welcher Gefangene mir drohte: Zickelmann*! Nur um ihn konnte es sich handeln. Ich zeigte meiner Praktikantin den Brief. Betretenes Schweigen. Zickelmanns Straftaten waren mir teilweise bekannt. Ich zog jedoch zur genaueren Information seine Personalakte hinzu. Da stand zu lesen: Metzger von Beruf. Bislang 20 Vorstrafen, quer durchs Gesetzbuch. Mit dem Messer in der Hand verschaffte er sich oftmals Eintritt in Nachtlokale nach der Sperrstunde. Weiter stand zu lesen: gefährliche Körperverletzungen, Verurteilungen wegen schweren Diebstahls, Hehlerei, Förderung sexueller Handlungen an einer Minderjährigen. Ein psychiatrisches Gutachten, an das ich mich in diesem Moment erinnerte, nannte ihn einen „explosiblen Psychopathen“. Zurzeit war er wegen „versuchten Todschlags“ inhaftiert. Er hatte entdeckt, dass seine Frau ihn betrogen hatte und sich anderen Männern anbot. Als Reaktion darauf zog er sie am helllichten Tag aus einem Taxi heraus und stach blindwütig auf sie ein. 27 Messerstiche gegen sein Opfer. Die Frau konnte gerettet werden, weil sofort ärztliche Hilfe zugegen war.

Dieser Mann hatte es nun auf mich abgesehen. Aber warum war gerade ich das Ziel seiner Aggression geworden? Ich hatte mich vor kurzem gegen seine Verlegung in eine offene Anstalt ausgesprochen und zwar gegen den Widerstand einiger Mitarbeiter, die meines Erachtens seine Gefährlichkeit unterschätzten, in Wirklichkeit jedoch wohl eher seinen aggressiven Druck und seine Erpressungen fürchteten und ihn daher schlicht loswerden wollten. Ich hatte Zickelmann damals gesagt, er sei eine „tickende Zeitbombe“. Worauf er mir geantwortet hatte: Ja, er sei die Bombe und ich der Zünder. Mein klares „Nein“ zum offenen Vollzug musste der Anlass gewesen sein. Vorher war er ein paarmal zu mir zur Beratung gekommen und hatte mich einmal einen „besonders vertrauenswürdigen Menschen“ genannt. War meine Gegenstimme zur Haftlockerung nun ein Verrat für ihn, den er an mir rächen wollte? Oder beinhaltete seine Drohung einen Erpressungsversuch ohne besonderen Hintergrund?

Da saß ich nun da, ein diplomierter Psychologe, eigentlich doch Fachmann für solche Angelegenheiten. Was konnte ich tun? Zunächst einmal den Verfasser des Briefes sprechen! Ich musste nähere Umstände wissen. Etwas später erfuhr ich dann, wie es geschehen sollte: Ich sollte mich erst in Sicherheit wiegen und in einem unbeobachteten Moment wollte er mir dann auflauern und mit dem Messer „die Schrote“ durchschneiden. Das würde er tun, wenn er nicht in den offenen Vollzug, also in den Genuss von Haftlockerungen käme. Ich fuhr mit der linken Hand über meinen Hals und schluckte. Rechnete Zickelmann damit, dass ich gewarnt würde? War der Gefangene, der mir den Brief brachte, etwa sein ‘Kurier’, der mich ans Leiden bringen sollte, so wie er selbst offenbar zu leiden schien? Wenn letzteres der Fall war, so war es ihm vollauf gelungen. Fürs erste konnte ich nichts mehr tun. Der Anstaltsleiter und der Vertreter des Polizeidienstes waren nicht mehr in der Anstalt. Ich traf aber noch den Vollzugsleiter des betreffenden Gefängnisflügels an und erzählte ihm von dem „heißen Eisen“. Für die nächste Woche vereinbarten wir eine „Geheimkonferenz“.

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