Macht und Ohnmacht in einer totalen Institution

Sich außerhalb der Regeln stellen verleiht Macht. Und je mehr das von der anderen Seite übersehen oder auch nur heruntergespielt wird, umso größer und gefährlicher wird sie. Eine Morddrohung, die von einem Gefangenen gegen einen Bediensteten ausgesprochen wird, führt zu einer unerträglichen Zuspitzung und einer berührenden Wende.

Eine unheimliche Konfrontation
Gerhard Heinz

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Wende und ihre besondere Form

Da geschah etwas Seltsames. Zickelmann traten Tränen in die Augen. Und plötzlich fiel er mir in die Arme und begann mich zu streicheln. Da lag er nun an mich geschmiegt, wie ich es von einer Frau her kenne. Er schluchzte und stammelte heftig bewegt: „Aber Herr Heinz, ich kann Sie doch nicht umbringen. Lieber bringe ich mich selber um. Ich kann doch keinen Menschen töten wie ein Tier. Sehen Sie, nicht einmal so einen kleinen Schnitt könnte ich bei ihnen machen.“ Dabei deutete er mit seiner Hand einen Ritz an meinem Unterarm an. Dann kramte er plötzlich in seinen Taschen und legte alles auf den Tisch, was drin war: Taschentuch, Tabak, Feuerzeug, ein paar Pfennige Bargeld. Er hätte doch gar kein Messer dabei. Dabei wurde er von heftigen Weinkrämpfen erschüttert. Nein, nein, er könne mich doch nicht töten; eigentlich habe er mich sogar gern.

Was war geschehen? Zickelmann war ohne Übergang von der einen Position in die andere hinübergewechselt: Grade noch war er der eiskalt berechnende und sich zum Herrn über Leben und Tod erklärende Erpresser. Jetzt aber, als wäre ein Schalter in ihm umgelegt, verwandelte er sich in einen Einfühlsamen und Leidenden, der sich zurücknehmen kann und unterordnet. In gewisser Weise präsentierte er sich jetzt selbst als Opfer. Schon der leiseste Gedanke meinerseits daran, dass er diese Drohung jemals hätte wahr machen können, erschütterte ihn daher auf eine eindrucksvolle Weise.

Plötzlich ging die Tür auf. Mein ‘Schutzmann’ schaute herein, sah, dass Zickelmann weinte und ich noch lebte. Mit den Worten: „Gleich kommen Sie sich die Post abholen, Herr Zickelmann“, machte er verwundert die Tür wieder zu. Ich selbst war wie benommen. Mit so einer heftigen emotionalen Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Was sollte ich jetzt tun? Ich fühlte mich sehr hilflos. Zickelmann rauchte eine Zigarette und sagte, er wolle mit seinen Tränen so nicht auf die Abteilung gehen. Auf einmal merkte ich, dass mit mir etwas Selt­sames passiert war: In mir hatte sich ein lang angestauter Alpdruck gelöst und ich fühlte mich nun leicht wie schon lange nicht mehr. Zusammen mit Zickelmann verließ ich den Konferenzraum.

Was mir gelungen war

Ein extremes Erlebnis wie das eben geschilderte ist im Berufsfeld eines Anstaltspsychologen natürlich nicht an der Tagesordnung. Durch dieses außergewöhnliche Ereignis ist mir aber nachhaltig klargeworden, dass sich gefährliche Verwicklungen ergeben, wenn im Umgang mit der Kriminalität deren Macht unterschätzt wird. Kriminelle Ereignisse geschehen gerade in den Momenten, wenn man sich vor ihnen sicher wähnt. Sie sind eine Repräsentanz des Unberechenbaren und letztlich nicht unter Kontrolle zu halten. Auch nicht in einem sichernden Gefängnis. Erst die rückhaltlose Anerkennung dieser Macht integriert auch das durch sie ausgelöste Ohnmachtgefühl. Während meiner Begegnung mit Zickelmann und meiner zunächst einmal unfreiwilligen Unterwerfung unter seine kriminelle Potenz habe ich die Existenz einer archaisch begründeten Macht erfahren, einer Macht, die sich gerade daraus ergibt, dass sie sich nicht an Gesetz und Ordnung hält. Ich glaube, dass diese Erfahrung und das damit verbundene Gefühl des Ausgeliefertseins zwar nicht alltäglich für uns stattfindet, aber als eine zentrale Erfahrung zu unser aller Leben gehört. Wenn ohne Verleugnungen damit umgegangen werden kann, erweitern wir in solchen Erfahrungen unser Leben. Unsere Kultur hingegen sucht uns eine solche Begegnung mit dem Archaischen durch die Bereitstellung von Absicherungsillusionen zu verschleiern. Wer ein Leben hat, kann es verlieren, insofern ist das Leben selbst gefährlich. Die Kriminalität mahnt uns daran.

Meine Ohnmacht Zickelmann gegenüber, die ich ihm gegenüber nicht verschleierte, entsprach in gewisser Hinsicht seiner Ohnmacht mir gegenüber, weil ich für ihn die behördliche Macht symbolisierte. Zu spüren bekam Zickelmann aber auch, dass ich dennoch um meine institutionelle Macht wusste und mich nicht von meiner Sachentscheidung abbringen lassen würde. Zickelmann hat mir auf dramatische Weise gezeigt, dass es besser ist, ihn in seiner kriminellen Gefährlichkeit zu respektieren, als ihn zu entwerten. Ihm verdanke ich einen tiefen Erkenntnisgewinn, Respekt zu haben vor dem, was uns vernichten kann, was keinesfalls bedeutet, das Vernichtende gut zu heißen. Es ist ein Paradoxon, die Menschen anzunehmen, ohne ihre Destruktivität dabei zu billigen. Wer als Psychologe in einem Gefängnis arbeitet, ist Helfer und Behandler, aber im Gegensatz hierzu auch ein direkter Vollstrecker im Niederhalten krimineller Rebellion. Diese beiden unterschiedlichen Aspekte müssen in den facheigenen Standpunkt eines Anstaltspsychologen integriert werden. In meiner weiteren Arbeit in der Anstalt habe ich versucht, das umzusetzen. Und auf der Basis dieser besonderen Erfahrung sollte mir in der nachfolgenden Gestaltung meines Berufsfeldes viel Positives gelingen, woran vorher ich mich nicht einmal getraut hatte zu denken.

*Der Name des Inhaftierten ist aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen geändert.

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